Nun stehe ich nachts um eins neben einer verwesenden Möwe, auf matschigen Algen, in modrig salzigem Wind und friere, während der Großteil meiner Arbeitskollegen sich in unserem verdienten Jahresurlaub wahrscheinlich schon in verdammt warmen Gefilden räkelt.
Schuld daran bin ich natürlich selbst. Eine ganze Woche im „All-Inclusive- Hotel“ halte ich kaum aus ohne regelmäßig zu irgendeiner Urlaubsaktivität oder Sehendwürdigkeit zu stürzen.
Mit diesem Hang zur Beschäftigung habe ich mich dieses Jahr auf einen Kajaktrip in der Mitternachtssonne Norwegens versteift. Zum Glück habe ich eine so leidensfähige Freundin und konnte sogar noch zwei gute Freunde für diesen sehr ausgefallenen Urlaub begeistern.
Vom Flieger direkt ins Wasser
Zu viert haben wir die 150 Kilogramm Ausrüstung, inklusive Verpflegung für acht Tage, zirka 500 Meter vom Langnes-Flughafen bis zum Rand der Insel Tromsøya getragen. 40 Minuten später waren beide Kajaks zusammengesetzt. In der Zeit hat Fabian die Benzinflaschen der beiden Campingkocher an der Tankstelle aufgefüllt, denn wir werden für mindestens eine Woche keine weitere Möglichkeit dazu haben.
Unser Startpunkt ist die Stadt Tromsø. Sie liegt 344 Kilometer nördlich des Polarkreises. Somit ist es hier zum Polartag vom 20. Mai – 20. Juli durchgängig hell. Das nutzen wir, um noch in dieser Nacht zu unserem ersten Schlafplatz zu kommen. Nach einem Snack lassen wir bei mäßigem Wind, aber recht unruhiger See die Boote zu Wasser. Gegen die auflaufende Flut fahren wir mit viel Anstrengung durch die Strömung unter der 41 Meter hohen Brücke Sandnessundbrua hindurch und kämpfen uns noch etwa sieben Kilometer weiter, bis wir früh um fünf Uhr müde unsere Zelte aufbauen.
Der erste wirkliche Tag unserer Tour begrüßt uns nicht viel anders wie der vorherige uns am Flughafen empfangen hat: trüb und grau. Wenigstens regnet es nicht mehr.
Noch hat sich weder das Wetter noch die Landschaft von der Seite gezeigt wie wir es uns gewünscht haben. So tragen wir mit ein paar Riegeln im Magen die Boote zum Wasser und steigen etwas gequält ein.
Die Insel Tromsøya liegt bereits in unserem Rücken als wir den Fjord zum zweiten Mal auf unserer Fahrt überqueren. Von Weitem haben wir einen Bach gesehen, an dem wir essen und die Trinkwasserreserven auffüllen wollen.
Auf der Fahrt dorthin klärt sich auch die aufkommende Frage, wer für das Stöhnen verantwortlich ist, das wir seit unserer Landung gelegentlich hören. Die Antwort: Papageientaucher, also kleine quirlige Vögel mit dickem buntem Schnabel.
Während auf der Kocherflamme nacheinander Tortellini mit Hackfleischsoße und Nudeln mit Champignons blubbern, strahlt zum ersten Mal die skandinavische Sonne durch die Wolken. Sie verdrängt die verschiedenen Graustufen der Landschaft und zaubert endlich die vielen schönen Grün- und Blautöne in die Wälder, Hänge, Küsten und Fjorde, welche sicherlich jeder aus Reisekatalogen kennt.
In einiger Ferne zeichnet sich auf dem Wasser eine verlassene Insel ab, welche dem GPS-Gerät zu folge acht Kilometer entfernt ist. Obwohl eine verdammt kurze Nacht hinter uns liegt, gepaart mit recht ungewohnter Anstrengung für Rücken und Schultern, ist die Insel nach weniger als zweineinhalb Stunden erreicht. Der dicke Moosboden der Insel eignet sich ideal zum Aufstellen der beiden Zelte. Er verspricht eine weiche und angenehme Nacht.
Des einen Freud & des anderen Leid – Dorsch
Tag III unserer Reise wird ganz von der Sonne begleitet. Diesmal beginnt die Fahrt bei Niedrigwasser. Das bedeutet: beide Boote müssen getrennt vom Gepäck über 20-30 Meter Felsen getragen werden, die zentimeterdick mit trocken gefallenem, aber trotzdem glitschigem Blasentang bewachsen sind. Der ein oder andere „blaue Fleck“ sollte da nicht ausbleiben.
So schön wie die Fjordlandschaft von oben betrachtet aussieht, so aufgewühlt war allerdings auch das Meer und ebenso kräftig der Wind von vorn. Zunächst hat es noch Spaß gemacht gegen die Wellen zu kämpfen: Das Boot geht auf und ab, Wellen schwappen über den Bug und um uns herum Norwegens beeindruckende Landschaft. Jedoch sinkt die Stimmung rasant, wenn auffällt, dass gerade einmal drei Kilometer in der Stunde bewältigt werden, zum Teil sogar weniger. Darum bleibt es für diesen Tag auch bei der Fjordquerung und wir suchen uns ein kleines Plateau als Nachtlager aus. Dieses liegt etwa 30 Meter über dem Meer, direkt neben einem Sturzbach.
Während der Fahrt habe ich am geschleppten Pilker den ersten Fisch gefangen. Es ist ein kleiner Dorsch, der mit 44 Zentimeter auch gerade so das Mindestmaß erreicht. Davon motiviert, nutzen Maik und ich den Rest des Tages zum Angeln vom Kajak aus. Abends bereiten wir den Fang des Tages am Lagerfeuer zu. Trotz der vielen Mücken, die uns hier zum ersten Mal so richtig nerven, sitzen wir bei Grog und Fisch noch bis lange in die Nacht hinein.
Leider bekommt Susi der Dorsch überhaupt nicht, was den Abend um noch einmal vier Stunden verlängert. Den Rest des Urlaubs verzichtet sie lieber ganz und gar auf Fisch.
An Tag IV bleiben die Kajaks auf dem Trockenen. Susi kuriert ihren Magen, Maik und ich gehen Bergsteigen und wir alle erholen unsere Schultern.
Als Tagesabschluss wollen Maik und ich baden gehen. Ein Thermomether gehört nicht zur Ausrüstung, aber ich kann sagen, dass der Fjord wahnsinnig kalt ist. Mindestens fünf Minuten brauchen wir um ins Wasser zu kommen. Ich hatte geplant ein bisschen zu Tauchen. Zu bieten hat die Unterwasserwelt hier auch genug. Nach zehn Minuten gebe ich allerdings auf. Länger macht das einfach keinen Spaß bei der Wassertemperatur.
Der V. Reisetag beginnt recht zeitig; trotzdem sind alle ausgeschlafen. Zelte abbauen, Gepäck zum Strand tragen, Boote zu Wasser lassen und los! … nicht ganz: Bei Maik sind beim Wassern heut nicht nur die Schuhe nass, sondern auch gleich der ganze Kerl.
Nach seinem Klamottenwechsel durchfahren wir den rauen Rest des Fjordes, vorbei an der Zufahrt zum offenen Meer, hinein in einen parallelen Meeresarm zum Lyngenfjord. In Oldervik, einem kleinen Fischer- und Erholungsörtchen mit Hafen, versuchen wir Eiscreme und etwas Proviant aufzutreiben. Es findet sich jedoch weder Geldautomat noch irgendein Kiosk oder Laden.
Darum müssen wir auch diesen Fjord überqueren. Auf Höhe von Oldervik ist er vier Kilometer breit. Auf der anderen Seite entladen wir die Kajaks und tragen sie in den Jӕgervatnet. Dieser große Süßwassersee liegt spiegelglatt vor uns als wir zum gegenüberliegenden Ufer fahren. Die Berge der Lyngen-Halbinsel spiegeln sich im Schein der Mitternachtssonne vor unseren Kajaks im Wasser. Es ist sehr angenehm weder salzige Luft noch Wasser auf die strapazierte Haut zu bekommen.
Nordische Gastfreundschaft zu Füßen der Lyngenalpen
Es folgt Tag VI, ein Sonntag. Wo es in einiger Entfernung einen Laden gibt, konnten wir gestern in Oldervik noch von sehr hilfsbereiten Norwegern in Erfahrung bringen, doch heute hat er natürlich geschlossen. Auch sonst sind uns die Norweger als ein sehr freundliches und hilfsbereites Volk begegnet. In dieser ersten Urlaubswoche haben wir in beiden längeren Gesprächen mit Norwegern Eis angeboten bekommen und außerdem noch Brot, Schinken und selbst gemachte Rhabarbermarmelade. Vielen Dank dafür!
Um den Sonntag nicht ungenutzt zu lassen, wollen wir einen Gletscher aus der Nähe sehen. Susi, Maik und ich packen die Rucksäcke. Fabian vergrößert indes sein Skandinavienwissen beim schmökern in mitgebrachter Reiseliteratur.
Beim Aufstieg hält sich die Sonne bedeckt. Kurz nachdem wir den Gletscher erreichen, kommt sie jedoch hervor und verwandelt die „LyngsAlpene“ (Lyngenalpen) in eine gigantische Bilderbuchlandschaft.
Ich bin tief beeindruck und stelle fest, dass das bombastische Naturerlebnis vorangegangener Alpentouren in Österreich, hier übertroffen wird. Der Aufstieg gestaltete sich zum Teil etwas mühsam, da keine Wanderwege vorhanden sind.
Als wir uns auf den Weg zurück machen, rutscht Susis Wasserflasche in eine etwa zwei Meter tiefe Felsspalte. Sie selbst kommt an die Flasche nicht heran, aber kopfüber im Stein hängend habe ich sie dann doch noch erreicht.
Etwa zwölf Stunden nach Aufbruch am Zelt sind wir gegen 23:30 Uhr zurück.
„Geduscht“ wird mit, für norwegische Verhältnisse, warmem Seewasser, wobei Susi und ich uns beim Waschen gegenseitig die Mücken vom Körper fern halten müssen.
Die kleinen Biester waren auch daran schuld, dass wir das beeindruckende Panorama in diesem einsamen Fleckchen Erde nicht genießen konnten und schleunigst in unsere Zelte flüchteten.
Das beiliegende Bild zeigt, die Übermacht, gegen die wir zu kämpfen hatten: Maik hat dort gerade einmal zwei Minuten gesessen.
Am Morgen des ersten Tages der neuen Woche fahren wir über den Jӕgervatnet. Nachdem wir die Boote am Ufer geparkt haben, folgt ein 20 Kilometer Fußmarsch, um in Lenangsøyra Proviant zu kaufen. Der Bus, der auf dieser Strecke fährt, kommt hier leider nur einmal täglich. Er ist bereits durch.
Zwar hätten unsere Vorräte noch zwei bis drei Tage gereicht, aber es wird sich kein weiterer Laden in der Nähe unserer Route befinden. In einem kleinen Discounter namens „Joker“ im Hafen kriegen wir alles was wir wollen, auch neues Benzin für die Kocher. Außerdem kaufen wir eine große Packung Oreo-Eis für alle und frisches Obst, was unsere Motivation enorm steigen lässt. Gleichzeitig merken wir an den Kosten für unseren Einkauf auch, dass der Durchschnittsnorweger weitaus besser verdient, als es bei uns der Fall ist.
Gut gelaunt, mit vollem Bauch und noch vollerem Rucksack geht es unter ungetrübt blauem Himmel retour.
Das top Wetter wird heut voll ausgenutzt: einmal quer über den See, die Boote zurück ins Salzwasser getragen und dann noch einmal zehn Kilometer den Fjord entlang paddeln, um kurz vor Mitternacht einen Rastplatz zu erreichen.
Für den kommenden Dienstag ist Regen, Nebel und Unwetter vorhergesagt. All das kündigt sich bereits mit schaurig schönem Abendrot an.
Es kommt wie prophezeit. Es regnet fast den ganzen Tag durch. Zum Teil sehen wir vor Nebel kaum das Ufer von unseren Zelten aus. Nur das Unwetter bleibt zum großen Teil aus.
Mit Ausnahme einiger Rückenflossen, von vermutlich einer Schule Schweinswale, gibt es für heut kaum noch Nennenswertes. Frühstück essen wir in einer Regenpause, Abendbrot unterm gespannten Tarp und den Rest des Tages schlafe ich fast durch. Die Anderen schauen noch ein paar Filme vom Handy und lesen.
Achja: in der Nacht hat uns noch eine Herde Schafe mit dutzenden Lämmern besucht. Leider hatten einige Tiere Glocken um den Hals. Da sie anfingen zwischen unseren Zelten zu grasen, gefiel uns das nicht ganz so nachdem wir ein paar Mal aufgewacht waren.
Ein toller Fang
Tag IX beginnt, wie fast selbstverständlich, sehr freundlich. Diesmal werde ich in der Nähe des Lagerplatzes bleiben und angeln. Susi, Fabian und Maik machen sich zusammen in einem Kajak zu einer etwas entfernten Fähranlegestelle auf, wo sie auf eine Bank hoffen. Um Zeit zu sparen haben wir beschlossen nicht via Kajak zurück nach Tromsø zu fahren, sondern mit dem Bus. Dort gibt es einen kleinen Kiosk mit warmen Bockwürsten, leider aber keine Bank. Im Gespräch mit einem Norweger erfährt Fabian von einer solchen, die etwa 15 Kilometer entfernt liegt. Noch so einem Fußmarsch wollte sich jedoch niemand hingeben. Ein Bus fuhr ebenfalls nicht. Alle Hoffnung schwand, doch dann bot der Norweger an, mit Fabian dorthin zu fahren.
Indes sitze ich ebenfalls im Kajak und mache mir ein Bild davon, was es heißt in einem der reichsten Fischgründe der Welt zu angeln. Der erste Wurf ein Dorsch! Zwar ist er, wie auch der Nächste, zu klein zur Verwertung, doch die Bisse verheißen mehr. Ich lasse den Köder in etwa 60 Meter Tiefe im Freiwasser sinken und steigen. Auf einmal zerrt mir ein riesiger Brummer die Angelrute zum Halbkreis und die Rutenspitze bis ins Wasser. Jetzt bloß nicht abreißen lassen!
15 Minuten dauert es den großen Dorsch bis an die Wasseroberfläche zu bringen. Dort gibt er auf und ich kann den Pilker packen um beide aufs Boot zu heben.
Ich bin überglücklich. Der Fisch ist fast zehn Kilogramm schwer und genau einen Meter lang.
Nachdem ich bei einer nahen Quelle noch Wasser geholt habe, bleibt genug Zeit um Holz zu sammeln und eine große Feuerstelle zu bauen. Mit Rückkehr von Boot zwei nehme ich den Dorsch aus und wir bereiten ihn am offenen Feuer zu. Heut genießen wir den Tagesausklang noch einmal in vollen Zügen. Es ist bereits fast der Abschied von der wilden Natur Norwegens.
An Tag X klingelt der Wecker zeitig. Bis 13:00 Uhr sollten wir zurück in Oldervik sein, um den Bus nach Tromsø nicht zu verpassen. Außerdem müssen wir die Kajaks zerlegen, entsalzten und alles transportfertig verpacken. Zum Trocknen der Ausrüstung bleibt keine Zeit mehr. Es fing ohnehin an zu nieseln.
Am späten Nachmittag kommen wir in Tromsø an. Dort buckeln wir die Taschen zum Campingplatz und mieten uns eine Blockhütte.
Es fühlt sich für den ersten Moment sehr ungewohnt an wieder unter vielen Menschen in der Zivilisation zu sein, aber Trauer kommt vorerst nicht auf. An allererster Stelle steht jetzt eine warme Dusche, ein richtiges Bett und ja, auch eine echte Toilette.
Die Hauptstadt der Arktis
Die letzten Tage verbringen wir alle samt in Tromsø. Zu sehen gibt es das Polarmuseum mit Originalexponaten vom weltbekannten Polarforscher Roald Amundsen, das Tromsø Museum über Samen und Wikinger und einen echten Eismeerkutter, der den meisten Nicht-Norwegern ein leichtes Schaudern versetzt beim Gedanke an tausende Robben die durch ihn ein blutiges Ende fanden.
Mit den nötigen trockenen Kehlen sollte es noch auf Kneipentour gehen, aber nahezu zehn Euro für 0,5 Liter Bier begrenzen diese auf lediglich eine Bar.
Trotzdem bereut niemand, dass wir das Ende unserer Tour in einer Stadt verbracht haben die sich als „Tor zum Eismeer“ bezeichnet und einige Superlative mit „die/das nördlichste der Welt“ beherbergt. Darunter befinden sich eine Universität, eine Kathedrale und eine Brauerei. Natürlich haben wir es uns nicht nehmen lassen in letzterer an einer Führung teilzunehmen und von dem leckeren Mackøl zu probieren. Die erhoffte Shopping-Tour rund um viele kleine Boutiquen und vor allem etliche Outdoorartikel bleibt mangels eines norwegischen Einkommens jedoch aus.
Zu erzählen haben wir uns nach zwei Wochen jetzt kaum noch etwas. Jeder hängt am Flughafen seinen eigenen Gedanken und unüberschaubar vielen beeindruckenden Erlebnissen nach.
In den beiden Wochen Nordnorwegen überwanden wir etwa 100 Kilometer im Kajak, ca. 55 Kilometer zu Fuß und 2000 Höhenmeter.
Die Region Troms verabschiedet uns mit einem letzten Schauspiel aus Gewitterwolken und durchbrechenden Sonnenstrahlen. Dann bringt uns SAS über Oslo zurück in die deutschen Großstädte.
Wo es in den nächsten Jahren hingeht?
Kroatien? Island? Spitzbergen? Oder über Europas Grenzen hinaus?
Keine Ahnung, fest steht nur: Norwegen wird auf jeden Fall sehr schwer zu toppen!