Eis am Kopf! Etwa drei Zentimeter davon hat der eisige, uns senkrecht ins Gesicht wehende Sturm bereits an die rechte vordere Hälfte von Mütze, Kapuze, Mundschutz und Skibrille geheftet. Immer von rechts vorn bläßt es unaufhörlich, zumindest seit wir uns im „Whiteout“ zu orientieren wissen.
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Die ersten 30 Minuten liefen wir leider im Kreis. Nachdem mir auffiel, dass der Wind aus immer der gleichen Richtung stürmt, konnten wir ihn zur Richtungsbestimmung nutzen. Ein GPS ist zwar geschützt von Eis in meiner Jackentasche, allerdings nutze ich es nur sporadisch um Batterien zu schonen.
Der Hauptteil der Skitour (Route grob aus der Erinnerung getrackt)
Im Griff von Väterchen Frost
Seit wir vom Bulli am gefrorenen Ufer des Ørter vor Stunden gestartet sind, habe ich nichts außer meiner Frau, zu der ich mich aller 100 Schritte umdrehe, und meiner Skispitzen gesehen. Darüber hinaus reicht die Sicht nicht; überall nur konturloses, homogenes Weiß. Die meiste Zeit bin ich mir nicht mal ganz sicher ob wir gerade leicht bergan oder bergab gehen. Die Sicht lässt jegliche Konturen um uns herum fehlen. Zum Teil kann ich vom Boden unter meinen Skiern nichts als glattes Weiß erkennen, keine Bodenwellen, keine Verwehungen, nichts. Auch der Standort der Sonne ist so gut wie nie am Himmel auszumachen. Kommunikation findet nur schreiend und Kopf an Kopf statt. Alles andere verschluckt der Sturm. Ein Ausziehen der Handschuhe lässt die Finger so schnell kalt werden, dass man sie kaum noch benutzen kann. Folglich erledigen wir jeden Handgriff nur mit geschützten Händen.
Zunächst war es ein Gefühl von Stärke diesem „Wetter“ trotzend und dank guter Vorbereitung in dieses annähernd subpolare weiße Nichts zu starten. Mit fortschreitender Tageszeit frustriert es mich allerdings zusehends. Der Blick aufs GPS zeigt, dass wir erst wenige Kilometer voran gekommen sind. Susi beginnt sich unwohl zu fühlen. Wer kann es ihr verdenken?
Ich muss an Roald Amundsen denken. Selbst er ist in der winterlichen Hardangervidda bereits gescheitert. Jeder Vergleich mit ihm wäre anmaßend und ich fühle mich schlagartig um einiges kleiner.
Nachdem wir laut GPS die Fläche eines größeren Sees verlassen haben, beschließe ich, dass wir uns eingraben. Susi stimmt dem gern zu. Die meisten Reisverschlüsse unserer Klamotten sind zugefroren, Druckknöpfe vereist, Klettverschlüsse ebenso. Zwischen meinen Handschuhen und der Jacke hat sich eine zentimeterdicke Eismanschette gebildet. An winzigen Franzen von verschiedensten Nähten lagerte sich Schnee an; ganz wenig für den Moment betrachtet, dafür stetig und unabänderlich. So wächst Eiskügelchen für Eiskügelchen heran. Es ist, als würde man mit kleinen gefrorenen Christbaumkugeln behangen. Egal wie man es anstellt, in jeder Tasche die man öffnet befindet sich augenblicklich Schnee. Es ist wie ein gefrostetes Pendant zu einem staubigen Wüstensturm.
Nach einiger Zeit des Grabens ist von unseren Skiern, Stöcken, Rücksäcken und der Pulka vor der entstehenden Schneemauer kaum noch etwas zu sehen. Abstrus wenn man bedenkt, dass ich auf der Anfahrt durchs größtenteils grüne Südnorwegen Angst hatte, dass überhaupt genügend Schnee auf der Vidda liegt.
Mittlerweile habe ich den Kampf gegen den Eispanzer auf der Skibrille verloren. Der Frost ist schon zwischen die Doppelverglasung vorgedrungen. Ohne schützende Brille wühle ich mich abwechselnd mit Susi in den Boden auf vorher absolut planer Fläche. Die Quittung wird mir bald darauf als Bindehautentzündung serviert. Zum Glück weiß ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Rückwirkend betrachtet muss ich sagen, sahen wir so eingefroren im Sturm wahnsinnig cool aus. An dem Tag selbst ist uns das mit Verlaub gesagt allerdings sche…egal. Nicht einmal ein Foto ist es mir wert. Wir sind platt, ausgekühlt, und wollen nur ins Zelt. Zum Teil hatte ich auf den anderthalb Metern vom gegrabenen Loch bis zur aufgestapelten Schneemauer die Orientierung wegen null Sicht verloren. Endlich im fertigen Zelt angekommen merke ich erst wie kalt ich überhaupt bin, nachdem ich beim Graben geschwitzt hatte. Wir gönnen uns beide ein Stück Kinderschokolade. Weltklasse!
Wir hatten nicht bemerkt wie hungrig wir waren und fallen nun ungezügelt über den Schokoladenproviant her.
Aus dem Schlafsack heraus schmelzen wir auf dem Gaskocher noch etwas Schnee. Auch die Flüssigkeitsaufnahme kam an diesen Tag viel zu kurz.
Weshalb wir uns im Urlaub solche Strapazen antun fragen wir uns schon lange nicht mehr. Bei diesem Trip sind wir uns jedoch einig, dass ein fortwährendes Wetter dieser Art ein vorgezogenes Tourende bedeutet.
Die schlagenden Zeltwände sind mit einem Fingerschnipp weg, genauso wie der tobende Sturm.
Unberührte Weite mit Iglu
In verblüffender Stille wachen wir wieder auf. Es ist hell, heller als gestern.
Ich krabbel aus Schlafsack, Zelt und Grube heraus. Dabei löse ich außen auf der Zeltwand eine kleine Lawine aus und bin überwältigt: Windstille, azurblauer Himmel der nicht einmal von Kondensstreifen durchbrochen wird, perfekte Sicht, wärmende Sonnenstrahlen und eine märchenhaft weiße, weite Landschaft, wie sie unberührter nicht sein könnte.
Ein nahes Tourenende ist sofort vergessen, genauso wie meine Nackenschmerzen, eine sich abzeichnende Erkältung, die Müdigkeit sowie die kalten Füße.
Wir belohnen uns mit einem Tag Ruhe. Außerdem gibt es jede Menge Sachen die enteist und getrocknet werden müssen. In der Ferne kann man eine Schneefräse sehen. Sie versucht als eine von Vielen die eingeschneite, gesperrte Straße RV 7 zumindest für den Kolonnenverkehr wieder befahrbar zu machen. Die Fräse mit speiendem Schnee sieht aus wie der „Roadrunner“ in Zeitlupe.
Heut wird Zeit für Susis Wunsch sein, einmal ein Iglu zu bauen. Als Ungeübte brauchen wir dafür 6 Stunden. Dennoch gelingt es auf Anhieb. Beim Bau fällt mir auf wie das Leder meiner Handschuhe langsam gefriert, sich stärker am Schnee abreibt und in letzter Sequenz nach Sonnenuntergang so hart wird, dass ich das Schneeschaufelblatt kaum halten kann. Als Abhilfe bleibt nur das Ersatzhandschuhpaar ohne Leder. Wieder haben wir damit einen für die Zukunft durchgefallenen Ausrüstungsgegenstand. Aber mit etwas Sonne am nächsten Tag wird es wenigstens kein Totalausfall, wie die als angeblich sooo hochwertig angepriesene Lawinenschaufel, deren Schaufelblatt sich beim Einsatz im Sturm vom Stiel brach. Zum Glück kam sie nie als Lawienenschaufel zum Einsatz.
Da wir gleich im Iglu schlafen, sparen wir uns den morgendlichen Zeltabbau, sowie das Trocknen des selbigen am folgenden Tag.
Mit der letzten Helligkeit dichten wir die restlichen Fugen zwischen den Schneesteinen ab.
Bei vergleichsweise angenehmen Null Grad im Schneehaus koche ich Tortellini mit Tomatensoße zum Abendbrot. Mangels ausreichender Belüftung gebe ich dafür den Benzinkocher schnell auf und nutze wieder den Gaskocher.
Immer noch müde beenden wir diesen Tag recht zeitnah. Beim letzten Toilettengang möchte ich das Iglu bei Nacht fotografieren, muss das Vorhaben jedoch wegen zu kalter Finger bzw. Zittern aufgeben.
Noch nie habe ich solch eine Stille erlebt. Der Schnee des Iglus isoliert uns gegen jedes Geräusch von draußen ab. Eine wahrlich beruhigende, erholsame Ruhe war das. Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, dass ich jemals eine solch absolute Stille erlebt habe.
Tortellini, Luchse & Genusssport
Um einiges erholter als am Vortag kann unser Urlaub nun richtig durchstarten. Bei erneut perfektem Wetter haben wir alle Ausrüstung in der Pulka verstaut. Nach kurzer Eingewöhnung kommt auch Susi mit ihren neuen Dynafit Tourenskiern zurecht. Nachdem die kalten Füße vertrieben sind wird es so warm, dass man auch im dünnen Shirt laufen könnte. Mit meiner Erkältung traue ich mir das nur nicht. Am Morgen war ich mit grünem Zwerg im Hals und verschlossener Nase aufgewacht.
Je zweimal cremen wir uns mit Lichtschutzfaktor 50 ein. Dank dessen sind wir am Abend im Gesicht nur minimal gerötet.
Relativ unerwartet vernehmen wir bei der Mittagspause sehr eindringliches Gegacker. Leicht verdutzt steh ich mit meinem halb gefrorenem Apfel in der Hand da und beobachte eine mindestens 20-köpfige Skigruppe, wie sie über den nahen Bergkamm rutscht. Irgendwie skurril diese Sonntagsausflugs-Atmosphäre mitten in lebensfeindlicher Umgebung. Da sie ohne bremsendes Gepäck unterwegs sind, verschwinden sie genauso schnell und heiter wie sie kamen. Sie sollten die letzte nennenswerte Menschenansammlung für die kommenden Tage bleiben.
Als Nachtlager stellen wir uns diesmal etwas mit Aussicht vor. 300 Höhenmeter in der gemächlich ansteigenden Flanke eines Berges finden wir tatsächlich einen solchen Traumplatz. In Erinnerung an den ersten Tag im Sturm, verwenden wir besonders viel Anstrengung für den Lagerbau. Der Platz liegt als kleiner „Windkanal“ zwischen zwei gestreckten Felsen. Es muss nur der Kanal verschlossen und die Felsen etwas erhöht werden. Nicht ganz zwei Stunden dauert das, inklusive Zeltaufbau und einräumen. Es schließt sich ein Sonnenuntergang an, den wir in Ruhe und mit Logenplatz aus dem Schlafsack heraus genießen können. Die geöffnete Apside am Zelt blickt genau aufs Tal und weit hinein in die größte Hochebene Europas.
Tags darauf erwachen wir vor der Sonne. Zum Glück! Als ich den klaren Himmel realisiere schüttele ich die Müdigkeit rasch ab und schmeiße mich mit der Kamera der Sonne entgegen. Viele Aufnahmen der Schneelandschaft lohnen tatsächlich nur in einer der beiden kontrastreichen Tageszeiten nach Sonnenauf- und vor Sonnenuntergang. Dazu hat heute Nacht die klirrende Kälte alle Gegenstände und Felsformationen mit Reif überzogen.
Trotz guter Vorsätze gehen wir den Tag zunächst ruhig an. Es gibt mein persönliches Highlightgericht des ganzen Urlaubs: Tortellini mit Tomatensoße, vier Knoblauchzehen und einem Hirtenkäse.
Gut gesättigt und mit ebenso guter Laune mahnen wir uns nun doch zur Eile. Dicke Wolkenhaufen wälzen sich von Süden über die runden Bergrücken. Noch lösen sie sich rechtzeitig auf. Der Punkt an dem dies geschieht rückt jedoch stetig näher an uns heran.
Wir ziehen einige wärmende Schichten aus und steigen bergan. Auf dem folgenden Bergrücken hoffen wir zum ersten Mal unser Tourenziel zu sehen, den Hardangerjøkul. Extra zur Besteigung des Gletscherplateaus haben wir Steigeisen, Eispickel, Halbseil, Klettergurte und Karabiner dabei. Eventuell ist das verschneite Gletschereis nun zwischen den anderen Gipfeln bereits zu sehen. Sicher sind wir uns jedoch nicht. Darüber hinaus können wir jetzt vom Bergrücken das Wetter besser abschätzen. Die nächsten Stunden wird es durchhalten.
Entspannt ziehen wir jetzt den Lastenschlitten über das anschließende kleine, hügelige Hochplateau. Hier und da säumen Felsbrocken aus verschiedenen Bereichen der glazialen Serie unseren Weg und zeugen von vergangenen mächtigen Eisschilden.
Zum ersten Mal fallen vermehrt Spuren im Schnee auf. Sie erinnern an Katzenabdrücke, bloß größer. Wir können nur vermuten ob es sich hier um Luchse handelt. Unser Herbergsvater später in Oslo wird das bestätigen.
Ein paar Fotos mit Wächten und wenige Kilometer danach neigt sich dieser eher dem Genussskilaufen gewidmete Tag langsam dem Ende zu.
Heute wählt Susi den Biwakplatz aus. Sie wird mich beim Platz ausschaufeln, wie auch Schneemauer bauen an diesem Abend entlasten. Derweil wird durch mich die Ausrüstung sortiert, Schlafsäcke, Isomatten und Biwackhülle getrocknet. Unser Biwakplatz liegt auf etwa 1300m Höhe.
Das Wetter hatte bis zum Schluss durchgehalten. Zwar sind schon kurz nach Sonnenuntergang knackige -12°C im Zelt, damit ist es aber noch immer nicht so kalt wie bei der Tourplanung befürchtet, bzw. einkalkuliert. Von gelegentlichen kalten Füßen abgesehen, ist es des Nachts im Schlafsack bis jetzt immer warm genug für uns. Die Schlafsäcke mit beiden Reisverschlüssen aneinander zu koppeln, hatte sich allerdings trotzdem als zu kalt erwiesen, da man sie so im Kapuzenbereich kaum zusammen ziehen kann. Zum Einschlafen gibt es heut einen Film auf dem mitgebrachten kleinen Tablet.
Tag vier soll ein Frauenproblemen geschuldeter Ruhetag werden. Zum Frühstück gibt es Vollkornkekse mit gezuckerter Milch aus Tschechien. Im Anschluss nutzen wir das anhaltend tolle Wetter für eine Abfahrt, viele Fotos, einen Futurama entnommenen Schneebender, die Erkundung der Umgebung und hacken einen nahen See auf, um endlich mal keinen Schnee schmelzen zu müssen.
Kurzum: ein angenehmer Tag voller Eindrücke.
Als fader Beigeschmack bleibt kurz vor der Nachtruhe noch ein grundloser zentimeterlanger Riss in Susis Isomatte. Zu ihrer großen Erleichterung können wir ihn nähen und im Anschluss mit Leim und Flicken gemäß Nutzeranleitung, aber offensichtlich dennoch notdürftig, reparieren. Das reicht zumindest um mit wenigen Malen aufpusten pro Nacht die restlichen Übernachtungen in der Wildnis zu verbringen.
Ach ja: ich habe mich zum Waschen gezwungen… komplett… mit Schnee… schrecklich.
Susi schließt sich mir an, steckt das aber irgendwie besser weg als ich. Keine Ahnung wie sie das als sonst so schnell frierender Erdenbürger anstellt.
Auf zum Gletscher!
Auf Ruhe folgt Sturm. Diesmal nicht beim Wetter, aber in mir. Am Abend vorher habe ich alles vorbereitet um morgens schnellstens zu starten. Die Sonne scheint, der Wind hat aufgefrischt, um 180° gedreht, weht nun von hinten und ich will unbedingt zum Gletscher.
Es wird knapp werden, aber scheint noch möglich. Motiviert reise ich Susi einfach mit. Sie vertraut mir dabei.
Zu allererst liegt eine längere Abfahrt vor uns. Da ich von Kindesbeinen an Ski fahre nehme ich die Pulka auf diesem Stück. Blöderweise habe ich das Zuggestänge falsch gebaut. Deswegen ist es schon von den Vortagen an vielen Stellen verbogen. Der eine oder andere Fluch entweicht mir daher, weil mir die Pulka ungezählte Male umstürzt. Ich sollte erst später lernen damit besser und schneller Abfahrten zu realisieren.
Was folgt ist ein gewelltes Tal. Ich presche mit dem Lastenschlitten voran.
Hinter einer windstillen Biegung wollen wir erstmals heute den Kocher anwerfen. Nach ein paar Litern Wasser kommen Reis, Rahmsoße und getrocknete Waldpilze in den Topf. Der Wind hat mittlerweile aufgefrischt. An Kleidung tragen wir, der Laufanstrengung angepasst, nur ein bis zwei Schichten, wollen das wegen Zeitersparnis allerdings auch nicht ändern. Als dann die Kocherflamme wegen verschmutzenden Brandrückständen in der Kocherdüse und zunehmendem Wind vom effektiveren Blau in weniger effektives Gelb wechselt reicht es mir. Die Reinigung muss warten. Somit gibt es im Laufen halb fertigen Schnellkochreis mit klumpiger Rahmsoße und zähen Pilzen. Nicht gerade beflügelnd, aber meine Motivation ist eh viel zu hoch. Später am Tag muss ich den Schlitten an Susi abgeben, weil ich dank Erkältung und Übermotivation zu geschafft bin. Pausen räume ich uns dennoch nur zum Trinken und kurzen Snacks ein. Kurze Abwechslung bringen uns ein paar Snowkiter. Keine schlechte Art diese Gegend zu erkunden. Bei diesem Anblick möchte ich das früher oder später ebenfalls mal probieren.
Obwohl meine Frau in den Monaten vor der Tour ihre Masterarbeit schrieb und ihr jegliche Zeit zur körperlichen Vorbereitung auf die Tour fehlte, zieht sie ausgezeichnet mit. Die Route nähert sich dem Sysenvatn. Der See ist gänzlich zugefroren. Wir steigen bis auf ca. 950 Meter Höhe ab. Hier gibt es vereinzelt wieder fließendes Wasser.
Am Sysenvatn sind wir vorbeigespurtet ohne wirklich den Ausblick zu genießen. Jetzt zeigt das GPS etwa acht Kilometer bis zum Gletscherfuß.
Kurz im Kopf überschlagen: heut bis zum Gletscherfuß laufen, Tag 6: am Gletscher, Tag 7: Abstieg/Beginn Rückweg, Tag 8/9: restlicher Rückweg, Tag 10: Rückfahrt zur Fähre. Ich bin am Boden zerstört. Für diesen Plan müsste jetzt alles passen: keine Schlechtwettertage oder gar Sturm, keine Probleme auf der für uns unbekannten alternativen Rückrute, keine Winter bedingten Probleme mit dem Auto, kein Stau und und und… Ansonsten ist die gebuchte Fähre in Trelleborg passé. Meinen nächsten Arbeitstag in Deutschland schaffe ich in dem Fall ebenfalls nicht. Dieses Risiko, dass tatsächlich alles reibungslos verlaufen wird, können wir hier draußen nicht eingehen.
Ohne Susis guten Zuspruch wäre ich wahrscheinlich erst einmal eine Stunde resigniert im Schnee sitzen geblieben. Die gesamte Anstrengung bis zu diesem Punkt erscheint mir umsonst. Hier rächt es sich, dass wir zu Beginn der Tour zu gemächlich, ja sogar zu genießend unterwegs waren. Dennoch; genau das ist es, was ich nach einiger Zeit des Nachdenkens auf gar keinen Fall bereue.
Ohne Ziel- und Zeitdruck stelle ich fest, wie mein Dahinziehen nun vom Genuss der Landschaft bestimmt wird, anstatt vom Druck ein Ziel zu erreichen bzw. Kilometer zu überwinden. Auf dem nun angetretenen Weg zurück kann ich die eiszeitliche Landschaft wieder mit der inneren Ruhe betrachten, wie sie es verdient; viel wichtiger noch, wie es für meine geistige Erholung gut ist. Denn genau deswegen sind wir wirklich hier: um auf andere Gedanken zu kommen, zu genießen, das Handy abzuschalten, den Kopf frei zu bekommen und die sonst so wichtigen Probleme des Alltags in einer Großstadt abzuschütteln. Schade, dass ich das zwischenzeitlich vergessen hatte.
Tourabschluss bei Nordlicht & Eispuzzle
Das letzte Bisschen Trauer ist verpufft, als ich nach dem Film „The Man From Earth“ (geistreiche Story, mit nur einem Zimmer für die Haupthandlung) kurz vor dem Einschlafen noch einmal durch die Abside zum Himmel schaue. Nordlichter!!!
Durch den zu 90% mit Wolken verhangenen Himmel sind sie nur ein Stück weit über dem Horizont zu sehen. Dennoch ist das kräftige Rot bis Orange am Himmel zwischen den Wolken beeindruckend. Eigentlich kenne ich Nordlichter bereits. Wach bin ich trotzdem wieder schlagartig. Bis 00:30 Uhr nehme ich mir Zeit, um aus dem Zelt heraus zu fotografieren. Dann schließe ich mich für die folgenden fünf Stunden Susi an und schlafe.
Ohne dass wir die Augen öffnen müssen wissen wir schon, was das schnelle, laute Aufeinanderschlagen der Zeltwände zu bedeuten hat: Mistwetter!
Zum Glück sind wir nicht zum Gletscher gelaufen. Einerseits ist das Risiko einer Gletscherbegehung bei starkem Wind und wenig Sicht unverhältnismäßig hoch, zum Anderen würden wir oben angekommen nicht einmal die Aussicht genießen können.
Die heutige Marschstrecke wird zwar durch bereits von uns begangenes Gebiet führen, aber wir sollen nichts davon sehen können. Wenigstens ist die schwankende Sichtweite mit 30 bis wenige hunderte Meter nicht so schlecht wie am ersten Tag. Der stetig von vorn peitschende Wind ist ebenfalls schwächer geworden, ermüdet aber trotzdem. Wenigstens ist die Erkältung endlich stark abgeklungen und die Bindehautentzündung offensichtlich weg. Etwas verwundert mich das bei der zurückliegenden Anstrengung in eiskalter Umgebung. Ich rechne zwar fest mit einem Rückfall, dieser kommt jedoch selbst später auf der Heimfahrt nicht.
Als einzig Nennenswertes bekommen wir am heutigen Tag zwei Hundeschlitten zu sehen; nur leider im Moment des Toilettenganges.
Ziemlich ausgelaugt laufen wir, abwechselnd die Pulka zerrend, zum Biwakplatz unserer dritten Nacht. Kurz davor wird uns noch ein Eisregen zuteil. Die Soft- und Hardshells an uns halten ihn ab und lassen an der äußeren Bekleidungsschicht eine geschlossene Eisschicht entstehen. Bei jeder neuen Bewegung quietschen wir wie Plastikscharniere und die Eisschicht zerbricht in ein großes Eispuzzle.
Erst mit Erreichen des alten Biwakplatzes schmilzt das Eis, da hier kaum Wind geht. Dabei werden auch die unteren Kleidungsschichten klamm und kalt. Ein Kräfte spendendes Essen muss mit einbrechender Dunkelheit trotzdem noch zubereitet werden.
Mit der Hoffnung auf bessere Wetterbedingungen und einem eindrucksvollen Abschied vom Fjell schlafen wir ein.
Erfüllt wird diese Hoffnung in keinster Weise. So fällt es uns nicht schwer das Lager zügig abzubauen. Auf ein warmes Frühstück verzichten wir, da es uns das Kochen erspart. An Wasser haben wir noch zwei vorbereitete Thermoskannen vom Vorabend. Als Orientierungshilfe helfen, wie schon am Vortag, die vom norwegischen Wanderverein DNT auf bestimmten Routen aller 25 bis 55 Meter in den Schnee gesteckten Birkenzweige.
In den Mittagstunden taucht langsam das Auto aus der nebeligen Suppe auf. Freigeschaufelt ist es zum Glück schnell. So sind wir nach kurzem Gespräch mit einem Kiterpärchen und dem Ausrüstungsverladen recht zügig im Auto Richtung Oslo. Der Abschied von der wunderschönen Hardangervidda fiel „dank“ der Sicht leicht. Ab diesem Moment freuen wir uns wie zwei Wichtel an Weihnachten auf die anstehende Dusche in Oslo.
Die übrig gebliebene Zeit werden wir in Norwegens Hauptstadt genießen und ausführlich Sightseeing betreiben, zum Teil auf den Spuren großer Abenteurer wie Roald Amundsen oder Thor Heyerdahl.
Ich habe mich gefragt, was diese Tour ausgemacht hat. Zuerst kam mir dabei die Extremsituation des ersten Sturmtages in den Sinn. Ich kann keinesfalls behaupten, dass wir dabei über das Wetter triumphiert hätten. Stolz kann ich dennoch sagen, dass es nicht nötig war aufzugeben, geschwiege denn Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen.
Damit bin ich dann auf den wirklichen Inhalt unserer Reise gestoßen:
Unsere bisherigen Unternehmungen beim Klettern oder mit dem Kajak am Eismeerrand, waren zwar immer fordernd, aber noch nie mit derart bedrohlichen äußeren Bedingungen wie hier. Dennoch ist in keiner Situation im Fjell Streit aufgekommen. Alle Entscheidungen wurden von uns gemeinsam getroffen. Ich hatte einmal für mich entschieden, dass die Beziehungsfestigkeit sich nicht in Einzelereignissen zeigt. An dieser Stelle musste ich das ein Stück weit korrigieren. Während des Schneesturmes und der späteren misslungenen Gletscherbegehung habe ich unsere junge Ehe geprüft und bestehen gesehen. Wenn wir uns jetzt noch einig werden wer im echten Leben Zuhaus den Biomüll wegbringt kann uns nichts mehr aufhalten 😛
Genialer Artikel!
Ich war vor anderthalb Jahren in der Hardangervidda und mächtig beeindruckt von der Größe und der Erhabenheit des Plateaus. Und den Pilzen an allen Ecken und Enden!
Ich komme von dieser Landschaft auch nicht mehr los. Egal zu welcher Jahreszeit.
Danke für das Lob.
Schmunzeln musste ich, als ich erfahren habe, dass die meisten Norweger gar keine Pilze essen :p
Leider cool… 🙂 Auch wenn der Auftakt nicht so prickelnd war.
Wieviel Kilogramm Equipment habt Ihr denn in der Pulka gezogen?
Ich habe solche Mehrtagestouren im Winter irgendwo in der Wildnis nun noch gar nicht probiert. Vielleicht sollte das man mal mit der passenden Vorbereitung und erfahrenen Reisepartner/-in mal in der Zukunft ändern.
Gruß Mario
In der Pulka waren etwa 60 kg, weil wir auf die Klettersachen nicht verzichten wollten. Da wir abwechselnd ziehen konnten, war das aber völlig in Ordnung.
Wenn dir für ne ausgefallene Idee mal jemand fehlt, kannst du gern bescheid sagen. Es ist leider nicht einfach für derartige Touren ohne Hüttenaufenthalt einen Begleiter zu finden. Es würde mich freuen dich kennenzulernen.
VG Hagen
Ja Hut ab 🙂
Hat richtig Spaß gemacht den Artikel bis zum Ende gelesen. Nicht, weil es mir Spaß machen würde Euch leiden zu sehen, sondern weil das super ehrlich und authentisch geschrieben ist.
Kein „Was-sind-wir-tough“ (obwohl ihr es wart), sondern ein ehrlicher Umgang mit einem nicht ganz so geplanten Tourverlauf.
Mein Highlight war in Eurem Artikel aber auch der Iglubau.
Weitwanderer sagen gerne „It´s not about the miles, it´s about the smiles“, wobei dann oft doch die Meilen im Vordergrund stehen. Freut Euch, dass z.B. mit dem Iglubau ne Menge Smiles entstanden sind.
Talk soon
Carsten
Auf der Tour sind, neben negativen Momenten, tatsächlich eine Menge Smiles entstanden. Welche Extremtour läuft schon so wie geplant? Obwohl es vielleicht nicht so aussieht, hat es uns so gut gefallen, dass wir es wiederholen werden. Lediglich meiner Frau war es etwas zu kalt und sie wünscht sich fürs nächste Mal gelegentlich eine Hüttenübernachtung zum Aufwärmen.
So angenehmes Feedback wie von dir motiviert mich sehr neue Beiträge zu schreiben, danke 🙂
Wow. Würde nicht so gerne in solcher Gegend unterwegs sein „müssen“, das wäre dank meines Brillen- oder Kontaktlinsenbedarfs ein ziemliches Sichtproblem auch ohne Sturm, aber, ja, Wow. Zeigt schon sehr schön die Kontraste, die man so erlebt, die eigentlich auch im „normalen“ Leben da sind, aber meist so seicht werden, dass man sie kaum mehr so spürt, wie wenn man draussen unterwegs ist und alle Sinne (und Muskeln 😉 ) involviert sind…
Schön zu sehen, wie nah Freud und Leid beieinander liegen. Was euch bleibt ist jedoch eine tolle Erfahrung. In meinen Augen gibt es kaum etwas schöneres als sich eine solche Tour zurückzuerinnern und froh zu sein, dass man es gemacht und geschafft hat!
Habt ihr euch eigentlich vorher auf den Iglubau vorbereitet oder einfach mal drauflos gebaut? Ich habe dabei immer Angst die Sauerstoffzufur zu unterschätzen.
Die Vidda im Winter ist schon immer ein Traum von mir gewesen. Damals habe ich die Tour sogar mal komplett geplant und musste es wenige Wochen vorher Absagen. Hatte das schon fast verdrängt. Jetzt reizt es mich aber wieder. Vielleicht ein Ziel für 2018 (falls ich einen Mitwanderer finde)!
Danke für den tollen und ehrlichen Bericht.
Hey Dennis,
den Iglubau haben wir uns vorher nur theoretisch angeschaut. Deshalb auch die lange Bauzeit. Trotzdem war es fest geplant, denn ich hatte extra eine Schneesäge aus Alu gebaut, um die Schneesteine aus dem Boden zu sägen. Das ging auch deutlich besser als mit der Schaufel.
Für die Luft haben wir ein paar wenige Ritzen in den Wänden nicht abgedichtet. Dadurch war auch Kochen im Inneren möglich. Sollte nachts ein Schneesturm kommen, der die Löcher zusetzt, dann am besten eine Kerze entzünden und in regelmäßigen Abständen den Wecker stellen (Nachtwache geht auch). Solang die Kerze brennt ist im Inneren genug Sauerstoff. Bei einem großen Iglu wie diesem sehe ich das Ganze allerdings entspannt.
Wenn du den Winter so sehr magst wie ich, dann musst du dein Vorhaben mit der Vidda unbedingt durchziehen. Sie ist es wert 🙂
Beste Grüße,
Hagen
Toller Bericht von Euch beiden, Glückwunsch zu der Tour.
Ich plane für März 2018 nach Norwegen zu Reisen.
Ihr seid mit Tourenski und Skitourenstiefeln gelaufen? Oder?
Wie seid ihr mit den Skiern und der Pulka da zurecht gekommen.
Auch mit den Fellen über längere Strecken, was schafft man da am Tage so ca.
Ich würde das auch gerne mit Tourenski machen, weil ich die schon habe.
Aber in manchen Berichten empfehlen die Leute die BC Skier.
Grüße aus Freising
Dirk
Hallo Dirk,
das hast du richtig gesehen, wir waren mit Tourenski-& stiefeln unterwegs. Wenn es ins steile Gelände geht sind die sehr von Vorteil, allerdings schafft man größere Strecken besser mit BC-Ski. Dass wir erstere nahmen liegt, wie bei dir daran, dass wir sie schon zur Verfügung hatten. Mit Pulka waren die Felle grundsätzlich dran, da wir sonst nur auf der Stelle traten. Als Tagesleistung haben wir so entspannt 10 Kilometer inklusive diverser Anstiege mit Pulka geschafft. Mit Anstrengung waren aber auch rund 20 Kilometer drin.
Für den der die Ausrüstung gerade anschafft, würde ich auf der Vidda zwar auch BC-Ski empfehlen, aber wenn du die Tourenski sowieso schon hast, dann mach die Tour ganz entspannt mit denen. Wir haben es nicht bereut. Die einzigen beiden großen Ausrüstungsmankos der Tour waren die minderwertigen Lawinenschaufeln und das instabile Zuggestänge der Pulka (fehlende Spurtreue in der Bergabfahrt).
Ich freue mich, dass du unsere Seite gefunden hast und wünsche viel Spaß im verschneiten Norwegen.
Beste Grüße,
Hagen
Achja: wenn noch Fragen offen sind, dann melde dich gern wieder.